Im Jahr 1954 formulierte Nieschlag auf Grund wirtschaftshistorischer Analysen das Gesetz von der „Dynamik der Betriebsformen“. Seine (elf Seiten umfassende) These lässt sich in vier Punkten zusammenfassen, die für ihr Verständnis wichtig sind:

  1. Newcomer oder Pioniere entwickeln eine neue, überlegene Marketing-Konzeption und setzen diese mit Hilfe einer aggressiven Niedrigpreispolitik am Markt durch.

„Die Möglichkeiten für solche Ersparnisse lagen – außer im günstigeren Einkauf – in einer bewussten Sortimentspolitik, die einen raschen Lagerumschlag versprach, in der Betriebsorganisation (…), in der Kontrolle, in dem Verzicht auf alle oder die meisten Kundendienstleistungen und schließlich in der einfachen Ausstattung der Betriebe selbst“ (Nieschlag 1954, S. 9)

  1. Nach den ersten Erfolgen wird die ursprüngliche Konzeption aufgegeben und es kommt zu einem „Trading-up“, d.h. das Leistungsangebot und das Preisniveau werden kontinuierlich gesteigert. Dahinter steht die Annahme der Pioniere, dass auch sie sich langfristig von den Nachahmern differenzieren und ein eigenes, dauerhaftes Profil aufbauen müssen (vgl. Oehme 2001, S. 324; Ahlert/Kenning 2007, S. 131).

„Dieser Wandel der Betriebspolitik erklärt sich im Wesentlichen dadurch, dass die ´neuen´ Betriebsformen zunächst befürchten und später sogar zum Teil feststellen, dass die Anziehungskraft, die Attraktionswirkung ihrer Geschäfte (…), allmählich nachlässt und schließlich ganz verloren geht“ (Nieschlag 1954, S. 9)

  1. Der konventionelle Handel übernimmt die erfolgsversprechenden Elemente der Konzeption der Pioniere und passt sich an. Am Ende der Entwicklung steht die Assimilation der Newcomer durch den konventionellen Handel (vgl. Oehme 2001, S. 324; Ahlert/Kenning 2007, S. 131).

  1. Die Assimilation schafft gleichzeitig die Voraussetzungen für das Aufkommen neuer Betriebstypen, die den Marktzugang wiederum von der Niedrigpreispolitik ausgehend herbeiführen. So schließt sich der Kreis und das ständige Auftreten von Newcomern induziert im gesamten Handel eine Dynamik, die zu einer Leistungssteigerung des gesamten Handels führt (vgl. ebd.).

Die Diskussion über die „Dynamik der Betriebsformen“ im Handel hält nun schon seit über 50 Jahren an und die Frage, ob Nieschlags These nun ein Gesetz ist oder nicht, war der zentrale Punkt dieser Diskussion. Heute kann man wohl sagen: die These ist kein Gesetz (vgl. Oehme 2001, S. 327f.). Zu jedem der vier oben aufgeführten Punkte lassen sich Gegenbeispiele finden:

  1. Die Niedrigpreispolitik ist nicht die alleinige Antriebskraft für eine Betriebstypendifferenzierung. Ebenso können Leistungsvorteile die Ursache für einen erfolgreichen Marktzugang neuer Betriebstypen sein. Denn es sind die Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen der Verbraucher, die diese neuen Betriebsformen initiieren und wenn z.B. die Nachfrage nach besonders hoher Qualität in einem bestimmten Segment vorhanden ist, dann wird sich früher oder später sicherlich ein Anbieter finden, der diese Lücke schließt (vgl. Oehme 2001, S. 326; Ahlert/Kenning 2007, S. 133; vgl. auch Marktlückentheoretischer Ansatz).

  1. Es gibt sehr erfolgreiche Beispiele (auch hier vor allem Aldi) wie Discounter an dem Discountprinzip festgehalten und kein Trading-up betrieben haben. Die rigorose Verfolgung der Kostenführerschaft stand für diese Unternehmen an oberster Stelle und da das Trading-up sicherlich nicht kostensenkend ist, stand es im Widerspruch zu der Leitphilosophie der Unternehmen.

  1. Wenn man unter Assimilation einen totalen Abbau der Gegensätze zwischen dem konventionellen Handel und den Newcomern versteht, dann hat sich dieser Punkt nicht bestätigt (vgl. Marzen 1986, nach Oehme 2001, S. 325). Wenn man allerdings unter Assimilation lediglich eine Verminderung des Wettbewerbsvorsprungs der neuen Vertriebsformen gegenüber dem konventionellen Handel versteht, dann muss man diesen Punkt gelten lassen (Dieses Argument hat auch Nieschlag selbst in seiner verbesserten Fassung von 1974 vorgebracht) (vgl. Potucek 1987, nach Oehme 2001, S. 326). Es findet ein permanenter Anpassungsprozeß im Handel statt, der nie zu 100% abgeschlossen ist und es wird nie zwei Unternehmen geben, die komplett gleich sind. Das ist natürlich absolut unmöglich, aber die Ähnlichkeiten können zum Teil sehr gravierend sein.

  1. Da sich Gegenbeispiele zu den drei vorangegangenen Punkten finden lassen, ist die Schlussfolgerung und damit die Schließung des Kreises nicht haltbar.

Vielmehr ist es so, dass ein Newcomer vier Entscheidungsalternativen hat:

~ Eintritt in den Markt mit hohem Preisniveau und dessen Beibehaltung

~ Eintritt in den Markt mit hohem Preisniveau und ein Trading-down

~ Eintritt in den Markt mit Niedrigpreisen und deren Beibehaltung

~ Eintritt in den Markt mit Niedrigpreisen und Trading-up (vgl. Köhler 1990, in: Oehme 2001, S. 328)

Damit wird die Wirklichkeit recht vollständig erfasst, aber eine Gesetzmäßigkeit lässt sich aus diesen Modell nicht ableiten. Denn nach wie vor ist der Unternehmer vom Markt und seinen Bedürfnissen abhängig. Neue Vertriebsformen sind in erster Linie das Ergebnis veränderter Verbrauchereinstellungen sowie Ausdruck des technologischen Fortschritts. Damit verliert das Modell seine Brauchbarkeit für Prognosen, nach denen der Handel seine Strategien ausrichten könnte (vgl. Oehme 2001, S. 328).

Darüber hinaus ist die „historische Methode“, d.h. der Versuch, gewisse Entwicklungen durch ihre historische Beschreibung zu erklären, nur bedingt dazu geeignet, die zukünftigen Ereignisse richtig einzuschätzen, oder gar Wege und Möglichkeiten zu finden, um ihnen entgegenzuwirken. Denn der Blick in die Vergangenheit ist, zumindest wissenschaftlich gesehen, keine geeignete Form der Gewinnung explikativer Aussagen über die Dynamik der Betriebstypen (vgl. Ahlert/Kenning 2007, S. 133).

Nichtsdestotrotz hat Nieschlags These ihre Aktualität nie verloren, was ihr Eingehen in viele Lehrbücher und Zeitschriften beweist. Sein Modell enthält zumindest Ansätze für die zukünftige strategische Planung im Handel. Manche Autoren beschreiben die Theorie „in seinen Grundaussagen auch heute noch als zutreffend und als eines der bedeutendsten Werke im Handelsmarketing“ (Gröppel-Klein/Germelmann 2004, S. 1001). Des Weiteren belegen viele Beispiele aus der Vergangenheit, dass Unternehmen den Marktzugang mit einer aggressiven Niedrigpreispolitik forcieren. Egal ob dies Discounter im Lebensmitteleinzelhandel (Aldi oder Lidl), im Großhandel (Metro-Cash+Carry), im Möbelhandel (IKEA, Roller) oder der Bürobranche (Staples) waren. Zusammenfassend kann man wohl sagen, dass die „Dynamik der Betriebsformen“ kein Gesetz ist, das absolute Universalität beansprucht, aber eine wichtige Hilfestellung bei der Gestaltung der strategischen Ausrichtung eines Unternehmens sein kann (vgl. Ahlert/Kenning 2007, S. 133).

-> Hier geht es weiter mit der ausführlichen Beschreibung des “Identitätsorientierten Ansatzes der Markenführung”

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